„Mit
der Dauer-Verwurstung von Romanen läßt sich nichts anfangen, davon geht
nichts Anregendes, nichts Neues aus. Ich verstehe das Theater als einen
Ort, der sich geistige Themen setzen muß. Das Theater ist, wenn schon
keine moralische, so doch eine geistige Anstalt. Theater muß schon etwas
mit dem Kopf zu tun haben. Es kann nicht alles reines Entertainment
sein. Die Gesellschaft ist voller Themen, aber das Theater ist von den
Autoren, die solche Themen gestalten könnten, völlig verlassen.“
Günther Rühle, Theaterkritiker, seine zweibändige beim S. Fischer Verlag
erschienene Theatergeschichte gilt als fundamentale Chronik des
deutschsprachigen Theatergeschehens. Quelle des Zitats: Interview
mit der FAZ, Feuilleton, Juni 2019
"Mag sein, daß der Text beim Theater heute in der Tat mitunter nur
noch eine Rolle unter vielen spielt... Der Abend jedenfalls, der
eindrucksvoll begann, wird in seinem Verlauf zur langwierigen
Figurenaufstellung. Ohne ein Innenleben zu entwickeln, wandeln die
Figuren wie tot über die Bühne. Das Auge bleibt nicht an ihnen
hängen, weder Kopf noch Herz erinnern sich später an sie. Warum?..."
Sagt Simon Strauss, Kulturredakteur im Feuilleton der FAZ am 25.
Oktober 2019 in seiner Theaterkritik: Die Prosa nimmt Rache am
Theater.
Es ist wahr: Das Theater verzichtet immer mehr auf seine klassische
Rolle als Sprechbühne. Deshalb fordert das Cimarron-Team: Ein Zurück
zu den Menschen und ihren Dialogen. Es ist unsere Sprache, mit der
wir unser Leben beginnen und beenden.
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Kalliopas:
Lange vor unserer Zeit gab es Männer in meiner Heimat, die noch mit den
Göttern im Streit lagen, weil sie nicht einsehen wollten, daß der Mensch
einem Gott untertänig sein sollte. Lange vor unserer Zeit herrschten
Könige in diesem Land, denen nachgesagt wird, daß sie göttlicher Geburt
waren. Und lange vor unserer Zeit haben Krieger gelebt, die sich zu
stolz dünkten, Frauen zu rauben, Kinder zu töten, und die so viel
Weisheit besaßen, daß sie Männern meines Alters mit Ehrerbietung
entgegen traten. Nun, Thessalides, euer weiser Ratgeber, hatte mich
eines Besseren belehrt. Er sagte, daß ich zu Masken sprechen würde,
unter denen Gesichter wären, die Tieren ähneln könnten (Thessalides ist
erschrocken aufgesprungen, Unruhe unter den Kriegern wird laut.),
vielleicht sogar Tiere seien, meinte Thessalides. Ich muß sagen, dann
wäre es das erste Mal (Wütendes Stampfen mit den Speeren wird laut, die
ersten Krieger beginnen, ihren Helm abzusetzen und stolz ihr Gesicht zu
zeigen, dem nach und nach alle folgen.), daß ich zu Tieren sprechen
würde. Aber wie ich sehe, hatte Thessalides Unrecht, denn vor mir sitzen
Menschen. Hat Thessalides, der euer weiser Ratgeber ist, euch niemals
vorher gesehen, daß er behaupten konnte, ihr würdet Tieren ähneln!?
Ich weiß nicht, warum ihr uns geraubt habt. Wenn ich Thessalides Glauben
schenken darf, aber das fällt mir schwer, dann wollt ihr herausfinden,
wer ein guter Redner ist und euch in den Bann schlagen kann.
Bedauerlicherweise will Thessalides darüber das Urteil fällen. Ihr wißt,
die ihr die Sprachlosen genannt werdet, ohne aber sprachlos zu sein, daß
ein Krieger zum Kämpfen die Arme braucht und kräftige Beine. Verliert er
eines dieser Glieder, so wird er leicht zu überwinden sein. Was muß
der Redner verlieren, wenn er in eine aussichtslose Lage geraten will?
Ja, richtig, ihr deutet auf den Mund, weil darin die Zunge ist, ohne die
auch die schönste Rede in unseren Gedanken ohne Wirkung bleibt. Ich
kann mir nicht vorstellen, daß so waffenstarke Männer wie ihr bereit
seid, einem Redner die Zunge herauszuschneiden, es sei denn, ihr
fürchtet die Macht seiner Rede. Ich kann euch beruhigen, noch niemals
haben meine Worte einen Menschen getötet, aber aufrütteln und
begeistern, das können sie. Wer aber wie ihr ohne Worte ist, neidet
den Helden des Wortes das gute Wort. Seid ihr oder ist Thessalides so
voll des Neides, daß ihr solche qualvolle Tat an uns verüben wollt!?
So wie ihr Helden des Kampfes mit der Waffe seid, die in euren Händen
ruht, so rühme ich mich, ein Held des Wortes zu sein, der sein Gesicht
nicht vor anderen Helden zu senken braucht. Das ist meine Antwort auf
Thessalides‘ Plan, mich zum Schweigen zu bringen! Niemals werde ich
mich einem Krieger unterwerfen, dessen Logik der tödliche Schlag ist,
und dessen Liebe der Grausamkeit und der Gewalt gilt! Ich bin auch
nicht Eusemios, der anderen nach dem Mund redet, und auch nicht
Bronsfeld, der einer anderen Zeit angehört! Ich heiße Kalliopas. Und
ich fordere euch auf, mich wieder dorthin gehen zu lassen, wo man einem
Menschen wie mir mit Ehrerbietung und Respekt begegnet! Gemurmel
unter den Kriegern entsteht. Kalliopas nimmt die Gelegenheit beim
Schopfe und verschwindet. Die Männer sehen zu Thessalides, der stumm
Kalliopas nachzeigt. Einer der Krieger zieht sein Schwert aus der
Scheide, legt den Speer auf den Boden und geht dem Flüchtenden nach. Sie
verlassen die Bühne.
Einige Sekunden lang herrscht Stille. Der
zurückkehrende Krieger behält das Schwert in der Hand, geht auf Eusemios
zu und befreit ihn von den Fesseln. Eusemios schreitet hastig zu dem
Steinpult. Mit unruhigen Augen und hilfloser Gebärde beginnt er zu
reden. Eine Zeitlang reibt er sich nervös die schmerzenden
Handgelenke.
Eusemios: Zuhause in Antiachos lebe ich mit meiner
Mutter in einem kleinen Haus. Thessalides kennt noch meinen Vater, der
ein großer Redner in seiner Zeit war. Mein Vater hat mich gelehrt,
Achtung zu zeigen vor den Taten der Krieger. Thessalides kann sich gewiß
noch daran erinnern, daß mein Vater vor der großen Schlacht am Styrax
den Helden Mut zugesprochen hat, sie an ihre große Verantwortung für das
Vaterland gemahnte und ihre ruhmreiche Vergangenheit beschwor. Ich weiß,
daß auch ihr ruhmreiche Kriege gewonnen habt, die in die Geschichte der
Völker eingehen werden. Dagegen verblassen die Reden der Rhetoriker,
zu denen ich mich bescheiden zählen darf. Kalliopas hat vor mir gegen
euch gezürnt. Das habt ihr nicht verdient, edle Kämpfer! Es ist auch
falsch zu behaupten, daß Krieger nicht mit dem Herzen dächten und nur an
den Kampf denken würden! Wer in der Schlacht seinen Mann steht, kämpft
nicht nur mit der Waffe, er hat auch mit sich selbst zu kämpfen, und
dabei spricht er mit seinem Herzen, das ihn stark oder schwach machen
kann. Wer aber so wie ihr den Mut zu einer natürlichen Tugend zählt,
fürchtet nicht das Waffenklirren der Gegner. Ich - ich weiß, daß ein
Redner kein guter Kämpfer sein kann (Unruhe kommt auf, Ablehnung.), hört
mich an, was ich damit sagen will! Ein Redner ist kein Krieger! Er hat
Angst, ja, er hat Angst vor dem Tod! (Die Unruhe verstärkt sich. Die
Männer sehen zu Thessalides, der mit der Hand ein Zeichen gibt, während
er zu Bronsfeld geht, um ihm die Fesseln zu lösen.) Ich bin nicht euer
Feind! Wollt ihr einen unschuldigen Redner töten!? Zuhause wartet jemand
auf mich! (Sie packen ihn und führen ihn ab.) Denkt an meine Mutter!
Lebt ihr ohne Mütter!? Seid ihr denn keine Menschen! Ich will nicht
sterben!
Nach den letzten Worten haben die Männer ihn nach
außerhalb des Platzes geführt. Sie sind aus dem Bild. Ein lauter Schrei
kündet von Eusemios‘ Ende. Thessalides geht mit Bronsfeld zu dem
Steinpult.
Thessalides:
Ich stelle euch Bronsfeld vor. Wir sind Brüder, Brüder des gleichen
Geistes. Wir haben ein Spiel ersonnen, das die Gegenwart mit der Zukunft
und der Vergangenheit vereinen soll. Dieses Spiel kommt aus der
Phantasie. Als die Götter noch Menschen waren, erfanden sie die
Phantasie, um den Menschen über die Gefühle des Tieres zu erheben.
Später, nachdem die sterblichen Menschen die Erde betraten, gab ihnen
die Phantasie alles Licht, das in die Dunkelheit ihrer Gedanken
leuchtete.
Danach entstanden die Städte, wurden unsere Waffen
erdacht und Kriege geführt. Immer aber blieb der Wunsch zurück, mehr zu
sein, als nur ein Kämpfer, weiter zu denken, als der Tag uns dazu
ermutigte, glücklicher zu leben als unsere Väter, aber auch verständiger
als sie.
Nun, ich will nicht noch mehr Beispiele aufzählen, die
uns zeigen könnten, wohin die Phantasie uns Menschen geführt hat.
Bronsfeld wird euch erzählen, was die Menschen, lange nach unserer Zeit,
erreicht haben. Ihr werdet sehen, wie großartig die Taten der Menschen
sind. (Der durchsichtige Stoffvorhang senkt sich langsam auf die Bühne.)
Unvorstellbar für unsere Gedanken sind die Dinge, die sie, die Späteren
geschaffen haben. Und doch sind sie Menschen geblieben, Krieger, Männer
der Politik, Lehrer und Rhetoriker. Sie haben sich nicht geändert. Aber
davon kann euch Bronsfeld mehr erzählen!
Bronsfeld: Das größte
Problem in unserer Zeit sind die Menschen...
Der transparente
Vorhand deckt alles zu. Es herrscht Stille. Thessalides geht zu seinem
Steinsitz. Bronsfeld hält seine Rede. Kein Wort ist zu hören. Allmählich
verlöscht das Licht. Vorhang.
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